Wahlprüfsteine im Überblick
Wahlprüfsteine zur Bundestagswahl 2021
zu Menschen mit erworbener Hirnschädigung (MeH) an alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien:
Mindestens 1 Million Mitbürger jeden Alters und deren Angehörige (Prävalenz) leiden an den komplexen kognitiven, psychischen, physischen, sozialen und beruflichen/schulischen Folgen erworbener Hirnschädigungen oder Krankheiten des Zentralen Nervensystems (ZNS).
Unter Bezug auf die Befragungen der politischen Parteien 2013 und 2017 zu dieser „stillen Epidemie“ und die damaligen Antworten [1] fragen wir auch zur Bundestagswahl 2021 erneut:
- War Ihre Partei im politischen Alltag der Gesundheits- und Sozialpolitik in den Jahren 2017 bis 2021 für MeH auf Bundes- oder Landesebene aktiv? Haben Sie politische Initiativen für diese besonders „vulnerable“ Gruppe von Mitbürgern jeden (!) Alters eingeleitet oder begleitet?
Welche medizinischen und teilhabebezogenen Änderungen hat es aus Sicht Ihrer Partei seit der letzten Bundestagswahl für Menschen gegeben, die aufgrund einer erworbenen Hirnschädigung unter körperlichen, kognitiven und verhaltensrelevanten Einschränkungen leiden und dadurch in ihrer individuellen, sozialen und beruflichen Teilhabe beeinträchtigt sind?
Wie steht Ihre Partei zu den Vorschlägen des Bundesprojektes „RehaInnovativen! (siehe Werkstattbericht 2021 [2]), deren Erfahrungen und Ergebnisse für eine vermehrte Individualisierung, eine verstärkte Regionalisierung und eine verbesserte Zusammenarbeit über beteiligte Professionen und Administrationen in der Rehabilitation und bei Teilhabeleistungen im Langzeitverlauf sprechen?
- Warum wird nach Meinung Ihrer Partei bei Ende der medizinischen Rehabilitation (Phase B und Phase C) Schwer- und Schwerstbetroffener nicht von Amtswegen durch die Träger eine frühzeitige, bedarfsabhängige, medizinische und teilhabeorientierte Bedarfsfeststellung, eine nachgehende RehaPhase E und eine Ergebniskontrolle per sozialgesetzlicher Regelung eingeleitet?
Der 2. Teilhabeverfahrensbericht (THVB) 2020 der BAR [3] Frankfurt zeigt: Das Instrument des Teilhabeplanes (THP) hat 2019 im GKV Bereich über alle (!) Krankheitsgruppen hinweg insgesamt nur 442 Mal und eine Teilhabeplankonferenz (THPK) nie (!) stattgefunden.
Unter dem Aspekt, dass viele schwerbetroffene MeH mit den komplexen Folgen der Gehirnschädigung bei Ende der Akutbehandlung und ersten medizinischen Rehaphase in der Regel trägerübergreifend relevante, medizinische und soziale Teilhabebedarfe haben, deutet dies auf ein frühzeitiges Systemversagen hin.
Die Deutsche gesetzliche Unfallversicherung e. V. (DGUV) kennt z.B. das Brain-Checkverfahren in der Versorgung von MeH und leitet eine frühe nachgehende Fallbegleitung. In der Onkologie und bei Stoffwechselerkrankungen gibt es systematische Angebote der Nachsorge durch die GKV.
Warum ist ein strukturiertes Nachsorgeangebot schon durch die GKV bei MeH und anderen schwerstbetroffenen Menschen nicht sozialrechtlich vorgesehen?
- Was hält Ihre Partei von der Anregung, bei schwerer und schwerster Betroffenheit die GKV von Amtswegen zu verpflichten, frühzeitig das Angebot einer nachgehenden Fallbegleitung und eines Teilhabeplanverfahrens einzuleiten und damit schon frühzeitig auch nachfolgend relevante Träger auf deren Anteile an individuellen Maßnahmen der Rehabilitation und sozialen Teilhabe hinzuweisen?
Ein Versorgungs- und Fallmanagementangebot durch die Träger fehlt regelhaft, obwohl z.B. §11 Abs.4 SGB V z.B. von der GKV ein „Versorgungsmanagement“ fordert (dies betrifft heute nur Entlassmanagement, Pflegeleistungen und Pharmakotherapien)?
Das Teilhabeplanverfahren als trägerübergreifende Maßnahme wird bislang selbst bei schwerer Betroffenheit nicht initiiert, obwohl alle Träger seit Jahren die Besonderheiten vor allem der mentalen und psychischen Beeinträchtigungen der ZNS Erkrankungen kennen (sollten; Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, 1995).
Gerade die komplexen Beeinträchtigungen durch eine Hirnverletzung/ZNS Erkrankung und die mentalen und psychischen Folgen bedingen, dass der/die Betroffene selbst zur der notwendigen frühzeitigen Antragsstellung nicht oder nicht bedarfsgerecht in der Lage ist.
- Können nach Einschätzung Ihrer Partei schwerstbetroffene MeH und anderweitig neurologisch schwerstbehinderte Menschen die komplexen Leistungen eines MZEB nach §123c und §43b SGB V in Anspruch nehmen? Die Beeinträchtigungen sind zwar anders, aber nach Art, Schwere und Komplexität, denen der Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung durchaus vergleichbar?
Wie wird Ihre Partei gewährleisten, dass schwerst Betroffene auch zukünftig nicht in ihrem Wahlrecht bezüglich des Versorgungsortes eingeschränkt werden?
Wie werden Sie verhindern, dass schwerst Betroffene die sich in ihrer Häuslichkeit versorgen lassen zukünftig nicht zu Sozialhilfeempfängern werden?
Welche Maßnahmen wollen Sie treffen, damit das Gesundheitssystem und die Selbstverwaltung patientenzentrierter wird?
Welche Reformen der Selbstverwaltung wollen Sie in der nächsten Legislaturperiode erreichen?
Wie werden Sie gewährleisten, dass sich durch die neue Heilmittelverordnung die therapeutische Versorgungssituation der schwerst Betroffenen und chronisch Erkrankten nicht verschlechtert?
- Die wichtigste Berufsgruppen für MeH sind im Verlauf nach der stationären Behandlung die ambulant tätigen Neuropsycholog:innen.
Weiß Ihre Partei, wieviel Neuropsycholog:innen diagnostisch und vor allem auch therapeutisch in Deutschland stationär und ambulant tätig sind, nachdem vor 10 Jahren die Leistung der ambulanten Neuropsychologie im einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM) implementiert wurde?
Wie können Ihrer Meinung nach, Anreize geschaffen werden, um zu einer diesbezüglich bedarfsgerechten, auch regional erreichbaren Versorgung zu kommen?
- Neurokompetente Beratung und Fallbegleitung sind insbesondere für Kinder und Jugendliche mit erworbener Hirnschädigung sowie deren Familien notwendig, um Teilhabe im Alltag, aber auch in Schule und Beruf nicht nur kurz- sondern v. a. mittel- und langfristig zu sichern!
Wie werden Sie für betroffene Kinder und Jugendliche sicherstellen, dass diese Beratung und Begleitung im ambulanten, medizinischen, therapeutischen, pädagogischen, sozialen und rechtlichen Nachsorgebereich erhalten, um deren Teilhabe zu sichern?
Wie können diese neurokompetente Beratung und Fallbegleitung für betroffene Kinder und Jugendliche und deren Familien nach Ihrer Einschätzung finanziert werden?
Die im letzten Koalitionsvertrag formulierte Zielstellung, Grundrechte von Kindern gesetzlich zu verankern, wurde nicht erfüllt. Was konkret wollen Sie tun, um Grundrechte für Kinder gesetzlich adäquat zu verankern? Wie sollen Grundrechte von Kindern mit erworbenen Hirnschädigungen gestärkt werden?
- EUTB als Beratungsstelle „Eine für Alle“ deckt nicht zuverlässig die Beratungsbedarfe der MeH ab, weil Neurokompetenz bei den Berater:innen nicht vorhanden ist. MeH zeichnen sich u.a. durch nicht sichtbare Behinderungen aus. Neurologische Fachkenntnisse sind deshalb unerlässlich.
Wird Ihre Partei sich dafür einsetzen, dass die einzelnen EUTB Beratungsstellen über eine fachliche, neurokompetente Expertise verfügen/ bzw darin geschult werden, um MeH in der Komplexität der Folgen im Rehabilitations- und Teilhabeprozess kompetent beraten und begleiten zu können?
MeH brauchen neben der neurokompetenten Beratung insbesondere eine unabhängige Fallbegleitung. Gerade die nicht sichtbaren neurologischen Einschränkungen erfordern eine fachliche Begleitung im nachklinischen Rehabilitationsprozess.
Wird Ihre Partei sich dafür einsetzten, dass es fachliche Fallbegleitungen (Casemanager:innen) und Beratung flächendeckend geben muss, die MeH bei Bedarf ab der Rehaklinik in der Nachsorge begleiten)?
Wie kann diese fachliche Fallbegleitung- und -beratung finanziert werden? Sind sie bereit eine klare gesetzliche Grundlage für das Fallmanagement als Leistung bei besonderen Problemlagen zu schaffen?
- Menschen mit erworbener Hirnschädigung brauchen bedarfsorientierte Unterstützung zur Sicherung der Teilhabe, Inklusion, Selbsthilfe und Tertiärprävention. Um dies gewährleisten zu können, ist die Stärkung psychosozialer Gesundheitsressourcen und Gesundheitskompetenzen – sowie die Hilfe zur Selbsthilfe – unabdingbar.
Menschen mit Schädelhirnverletzung müssen zur Abdeckung der Bedarfe jeweils einzelne Angebote aufsuchen. Eingeschränkte Mobilität oder regionale Unterschiede führen zu Chancenungleichheit. Für Krebserkrankungen hat man diese Konfliktlage erkannt und erste Lösungsansätze geschaffen: Mit dem § 65e SGB V wurden ambulante Krebsberatungsstellen durch den GKV, RV und Kommunen in die Regelfinanzierung aufgenommen. In Anlehnung an den § 65e SGB V müssen zusätzliche Hilfeangebote auch für Menschen mit Schädelhirnverletzungen finanziert werden. Die demografische Entwicklung wird in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren auch zu einer dramatischen Zunahme an Schädelhirnverletzungen älterer Menschen führen. Wie beabsichtigen Sie dieser dramatischen Entwicklung durch Sicherstellung der finanziellen Grundlagen zu begegnen?
Die Finanzierung der Selbsthilfe nach § 20h SGB V muss entsprechend der Notwendigkeit flexibel und unkompliziert umgestaltet werden. Welche rechtlichen Voraussetzungen zur Förderung von Beratungsangeboten beabsichtigen Sie außerhalb der klassischen Selbsthilfe nach §20h SGB V für z.B. regionale und überregionale Beratungsnetzwerke für Menschen mit erworbene Hirnschädigung oder gemeinnützige Stiftungen und gGmbHs zu schaffen?
[1] https://nachsorgekongress.de/aktionen/2013-wahlpruefsteine/, https://nachsorgekongress.de/aktionen/2017-wahlpruefsteine/
[2] https://www.reha-recht.de/infothek/beitrag/artikel/werkstattbericht-rehainnovativen-impulse-fuer-die-weiterentwicklung-der-medizinischen-rehabilitatio/
[3] https://www.bar-frankfurt.de/fileadmin/dateiliste/THVB/2_THVB_2020.pdf
Dowloaden Sie hier das Anschreiben sowie die Wahlprüfsteine zur Situation von Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen (MeH) als PDF-Datei.