Resolution

15. Nachsorgekongress der Arbeitsgemeinschaft
Teilhabe, Rehabilitation, Nachsorge und Integration nach Schädelhirnverletzung:

Teilhabe – Anspruch und Wirklichkeit

Die Arbeitsgemeinschaft Teilhabe, Rehabilitation, Nachsorge und Integration nach Schädelhirnverlet­zung hat sich seit 2006 unter der Federführung der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung mit insgesamt 15 Kongressen für die Übernahme von Nachsorgeleistungen in die Regelversorgung ausgesprochen. Von allen beteiligten Akteuren, den Betroffenen und Angehörigen, den Vertretungen von Fachverbänden und Fachgesellschaften sowie von Wissenschaft, Sozialversicherung und politischen Vertretungen wurden dazu hinreichende und zwingende Argumente, Begründungen und Empfehlungen vorgelegt.

Nachsorge ist für die inzwischen über 1 Mio. Menschen mit erworbener Hirnschädigung und neurolo­gischer Behinderung und mit einem besonders hohen und komplexen Versorgungsbedarf ein zentra­les Element im nachklinischen Versorgungsprozess zur nachhaltigen Sicherung der Daseinsvorsorge, selbstbestimmter Lebensführung, gleichwertiger Lebensverhältnisse, gesundheitlicher Restitutions­potenziale wie auch der Wiedereingliederung und Teilhabe.

Die von der Deutschen Rentenversicherung und der Deutschen Unfallversicherung implementierten Nachsorgeprogramme gewährleisten eine Rehabilitation der Betroffenen und führen im Ergebnis dazu, dass die unfallbedingten Teilhabehemmnisse weitestgehend abgebaut werden. Die Realisie­rung sämtlicher Rehabilitationspotentiale verbessert jedoch nicht nur die Lebensqualität der Be­troffenen nachhaltig, sie zeigt sich auch in der Kostenentwicklung des verantwortlichen Leistungsträ­gers als äußerst beitragsstabil.

Im Gegensatz dazu sind die Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung aufgrund der Fokussie­rung auf eine möglichst kostengünstige Behandlung der Krankheit bzw. der Krankheitsfolgen gerade mit Blick auf die Rehabilitation der Menschen mit erworbenen Hirnschäden nicht ausreichend, um Rehabilitationsprozesse zu initiieren, Rehapotentiale zu generieren und zu heben. Im Ergebnis wer­den krankheitsspezifische Teilhabehemmnisse – trotz auf Dauer hoher Versorgungskosten – zum Nachteil der betroffenen Menschen dauerhaft aufrechterhalten.

Der Nachsorgekongress fordert die Stärkung der Rehabilitationsträgerschaft der Gesetzlichen Kran­kenversicherung. Er fordert dazu den Gesetzgeber konkret auf, den § 12 Abs. 1 SGB V wie folgt zu er­gänzen: § 12 SGB V Abs. 1 Satz 2: „Als notwendig, zweckmäßig und wirtschaftlich gelten alle Leistun­gen die geeignet sind, Rehabilitationspotentiale zu generieren und zu realisieren.“

Der Nachsorgekongress fordert den Gesetzgeber dazu auf, das Organ der Selbstverwaltung zu beauf­tragen, in Abstimmung mit den Patientenvertretern und unter Hinzuziehung von Leistungserbringern eine Richtlinie zur Entwicklung und Implementierung von krankheitsspezifischen Nachsorgekonzep­ten zu erlassen. Bereits durch andere Leistungsträger erfolgreich umgesetzte Nachsorgekonzepte sol­len kurzfristig mit der Maßgabe übernommen werden, dass anstelle des Leistungsträgers die Gesetz­liche Krankenversicherung tritt.

Die Erfahrungen aus der Beratungspraxis zeigen, dass eine Realisierung berechtigter Ansprüche der Betroffenen verschiedener Leistungsträger im Rahmen einer ganzheitlichen Teilhabeleistung nach den Regelungen des SGB IX mit erheblichen bürokratischen Barrieren belastet ist. Den Betroffenen ist es deshalb vielfach nicht möglich, zeitnah und umfänglich die zustehenden Leistungen zu erhalten.

Der Nachsorgekongress fordert den Gesetzgeber auf, die bestehenden Barrieren der Leistungsbean­tragung zu senken, indem den Betroffenen ein Recht auf eine Unterstützung durch einen „Persönli­chen Organisator“ zur Realisierung seiner Ansprüche im Rahmen einer ganzheitlichen Teilhabe, ge­währt wird. Der „Persönliche Organisator“ wird durch den Betroffenen beauftragt. Er ist ausschließ­lich dem Betroffenen verpflichtet. Der persönliche Organisator übernimmt in Absprache mit dem Leistungsberechtigten die Koordination und Steuerung der Prozesse mit den beteiligten Akteuren. Der persönliche Organisator zeigt seine Tätigkeit beim örtlich zuständigen Betreuungsgericht an. Seine Leistungen werden nach Maßgabe der Vergütungen für die Tätigkeit von Berufsbetreuern vom Betreuungsgericht vergütet. Die geleisteten Vergütungen werden durch das für die Leistungen der Teilhabe zuständige Bundesministerium erstattet.1

Nachsorgekonzepte, -programme und -leistungen der Rehabilitationsträger unterscheiden sich hin­sichtlich Art, Umfang und Zugang deutlich für gesetzlich Krankenversicherte. Während für Unfallver­sicherte alle zur Verfügung stehenden Mitteln einzusetzen sind, werden gesetzlich Krankenversi­cherte im Gegensatz dazu ausschließlich notwendig, ausreichend und zweckmäßig sowie nach den Re­geln der Wirtschaftlichkeit behandelt. Diese Beschränkung auf eine rein medizinische Behandlung ohne rehabilitative Teilhabeleistungen ist unwirtschaftlich, gilt doch das Teilhabegebot für alle Reha­bilitationsträger.2

Damit die notwendige und überfällige Nachsorge für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und neurologischen Behinderungen endlich in die Regelversorgung übernommen wird, fordern wir die Politikverantwortlichen in Kommune, Land und Bund auf:

  • Teilhabe fördernde Leistungen zu gewähren, anstatt leistungsablehnend zu entscheiden,
     
  • den Versicherten ihren gesetzlich verankerten Anspruch auf ein Versorgungsmanagement, insbesondere zur Lösung von Problemen beim Übergang in die verschiedenen Versorgungs­bereiche, zu gewähren (§ 11 (4) SGB V),
     
  • bürokratische Barrieren für die Leistungsberechtigten (analog zum DGUV Brain Check-Verfahren) bei der Beantragung von Leistungen durch die Unterstützung eines persönlichen Organisators, der von den Betroffenen bestimmt wird, abzubauen,
     
  • einheitliche, flächendeckende und sektorenübergreifende Nachsorge-Strukturen aufzubauen,3
     
  • individuell zugeschnittene und im Verlauf angepasste Ziele und Maßnahmen, je nach Be­darfsermittlung, Nachsorge- und Teilhabeplan zu gewähren.4

Die im Bundesteilhabegesetz (BTHG) geforderte Entscheidungsfrist über die Zuständigkeit wird durch inflationäre Gutachtenanforderungen umgangen. Eine Überprüfung, ob die beauftragten Gutachter das BTHG kennen oder befähigt sind, die komplexen Bedarfe von Menschen mit erworbener Hirnschädigung zu erkennen, erfolgt durch die Leistungsträger meist nicht.

In §§ 12, 13 SGB IX werden die Maßnahmen zur Unterstützung der frühzeitigen Bedarfserkennung ausgeführt. Menschen mit erworbener Hirnschädigung benötigen aufgrund der häufig multimodalen Einschränkungen eine proaktive Beratung und Aufklärung über die rehabilitativen Maßnahmen, neu­rokompetente Unterstützung gemeinsam von allen Leistungsträgern.

Die Teilhabeplanung wie in § 19 SGB IX gefordert, soll von den Leistungsträgern „im Benehmen miteinander“ und „in Abstimmung mit dem Leistungsberechtigten“ erstellt und kommuniziert werden (Forderung nach einer transparenten Teilhabeplanung, an der die Klienten beteiligt werden).5

Dies bedeutet im Einzelnen:

  • Sicherung von Nachhaltigkeit der in der Reha erreichten Fortschritte und Dauerhaftigkeit der Integration auf der Basis der ICF.6
     
  • Aufheben der Ungleichbehandlung und Benachteiligung von GKV-Versicherten gegenüber anderen Krankheitsarten und Leistungsträgern durch konsequente Umsetzung nachgehender Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe.7
     
  • Gleiche Rechtsauslegung und Rechtsanwendung gegenüber Ansprüchen des leistungsberech­tigten Personenkreises in der Eingliederungshilfe durch die Rehabilitationsträger in Ländern und Kommunen (§§ 90 und 99 SGB IX).8

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Zur besseren Lesbarkeit wird das generische Maskulinum verwendet. Die verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter.