Es war ein enormer Kraftakt...

Es ist eine altbewährte Tradition der Nachsorgekongresse: Die Interviews mit Betroffenen.

Eine Gesprächsrunde mit Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen. Diese Interviews sind immer etwas ganz Besonderes bei den Nachsorgekongressen. Das hat auch jetzt wieder der lang anhaltende Applaus des Publikums gezeigt. Den Interviewpartnern wird damit der große Respekt bezeugt, dass sie den Mut aufbringen, offen über ihre persönlichen Schicksale zu berichten.

Dieses Jahr stellten sich Carina Deffner, Fabian Schmelzer und Barbara Wiedmann den Fragen des Wissenschaftsjournalisten und Radiomoderators Martin Winkelheide, der auch dieses Mal wieder souverän und einfühlsam auf die drei Betroffenen einging.

Bei allen drei Interviewpartnern handelt es sich um junge Menschen, die sich nach einer schweren Hirnschädigung wieder ins Leben zurückgekämpft haben. Drei Personen, die sich in der Tagesklinik für neurologische Komplexbehandlung und Nachsorge in Pasing kennengelernt haben und an dem Nachsorgekonzept des NeuroRehaTeams München-Pasing teilnehmen. Im Rahmen dieses Nachsorgekonzeptes bietet das NeuroReha-Team München-Pasing speziell für junge Menschen mit erworbener Hirnschädigung eine Gesprächsgruppe an.

Carina Deffner absolvierte eine Ausbildung zur Gärtnerin, als sie einen schweren Verkehrsunfall erleben musste, an den sie sich nicht mehr erinnern kann. Sie weiß nur noch, wie sie im Krankenhaus aufgewacht ist und ihre Schwester am Bett gesessen und geweint hat. Sie weiß alles nur aus Erzählungen ihrer Eltern.

Nach dem Krankenhausaufenthalt war sie anschließend in einer Reha-Maßnahme. Nach dem Reha-Aufenthalt musste sie feststellen, dass sie sowohl ganz einfache Tätigkeiten, wie zum Beispiel eine Flasche öffnen, aber auch »Wie organisiere ich meinen Alltag?« nicht mehr ausführen konnte. Carina Deffner kam im Alltag nicht mehr zurecht. Sie hatte jeden Tag sehr starke Kopfschmerzen. Ihr Arzt überwies sie an eine Klinik nach Murnau. Sie erhielt eine weitere zehnwöchige Reha.

Folgen des schweren Unfalls waren fokale Anfälle: Sie konnte ihre rechte Körperhälfte nicht mehr kontrollieren, musste zittern. Auch heute stürzt sie noch relativ häufig. Aber nicht immer. Oft bekommt sie solche Anfälle bis zu zweimal pro Woche. Manchmal erlebt sie auch die eine oder andere Woche ganz ohne Anfälle. Nach der medikamentösen Einstellung waren die Anfälle weg. Aber die Angst, dass sie stürzen könnte, ist ständig da.

Der schwere Unfall passierte während ihrer Ausbildung zur Gärtnerin. Sie war im zweiten Ausbildungsjahr. Danach war sie ein komplettes Jahr zu Hause. »Nach Wiederaufnahme der Ausbildung hatte ich am Tag der schriftlichen Abschlussprüfung einen zweiten schweren Verkehrsunfall«, sagte Carina Deffner. Man merkt es ihr an, dass es ihr schwerfällt, davon zu erzählen: »Ein Auto hat mir die Vorfahrt genommen, mein Fahrzeug hat sich dreimal überschlagen und um 180 Grad gedreht ... An diesen Unfall kann ich mich komplett erinnern. Der Unfall kommt immer und immer wieder nachts im Traum vor.«

Trotz allem konnte Carina Deffner zweieinhalb Wochen später ihre Abschlussprüfung zur Gärtnerin erfolgreich ablegen. »Dies war aber nur mit der Unterstützung meiner Familie und meines Ausbilders möglich. Es war ein enormer Kraftakt.« Carina Deffner ist stolz, dass sie ihren Abschluss geschafft hat.

Aber nach fünf Monaten wurde das Arbeitsverhältnis gekündigt: »Ich war überfordert, weil ich körperlich zu eingeschränkt war ...« Sie hat immer noch gesundheitliche Probleme, wie Nervenentzündungen, Schmerzen usw.

Carina Deffner absolvierte anschließend viele Praktika und durfte in einem orthopädischen Geschäft erlernen, Schuheinlagen anzufertigen: »Das ist eine schöne Handwerksarbeit und macht richtig Spaß«, so Carina Deffner.

Fabian Schmelzer hatte kurz nach der Geburt eine Gehirnblutung. Fabian Schmelzer: »Es war nicht klar, ob ich durchkomme ...«

Fabian Schmelzer hat eine halbseitige Lähmung. Aber neben dem körperlichen Handicap hat er auch mit Konzentrations- und Gedächtnisproblemen zu kämpfen. »Aber dies habe ich eigentlich erst so mit 17, 18 Jahren gemerkt, als meine Hand wegen der #Spastik# operiert werden sollte.« Im Vorfeld zu der Operation wurden während eines Reha-Aufenthaltes mehrere kognitive und Konzentrationstests durchgeführt. »Dort wurde dann festgestellt, dass ich Probleme habe beim Transfer vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis.« »Im Nachhinein sind mir dann Erlebnisse aus meiner Schulzeit wieder eingefallen. Ich hatte das Image, dass ich unzuverlässig sei. Oder dass mich Sachen nicht interessieren.« Aber das hat Fabian Schmelzer nicht bewusst gemacht; er konnte sich damals nur nicht mehr daran erinnern, dass er zum Beispiel einen Termin für ein Treffen vereinbart hatte.

Fabian Schmelzer hatte, wie er erzählt, eine »lange Schullaufbahn und verschiedene Stationen«. Er war neun Jahre auf der Waldorfschule. »Ich war auf der Schule der einzige, der solche Defizite hatte«, so Fabian Schmelzer. Er ist ohne Abschluss von der Schule gegangen. »Später besuchte ich eine Privatschule und habe meinen Quali gemacht. Da hatte ich das Gefühl, mit den anderen mithalten zu können.«

Jetzt ist Fabian Schmelzer bei der »Pfennigparade« in München beschäftigt, einer Einrichtung für Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Fabian Schmelzer: »Die Arbeit dort macht mir Spaß!«

Bei Barbara Wiedmann, einer jungen Frau, wurde ein Tumor im Kopf festgestellt. Man riet ihr zu einer schnellstmöglichen Operation. Die OP war ursprünglich für drei Stunden angesetzt. »Im Endeffekt sind es dann neun Stunden geworden«, so Barbara Wiedmann. Nach der Operation war sie in einer Rehabilitationsklinik. Danach musste sie jedoch wieder ins Krankenhaus. Dort wurden ihr in einer weiteren Operation Teile ihrer Schädeldecke entfernt und eine Titanplatte eingesetzt.

Barbara Wiedmann hat nach ihrer Operation erhebliche Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis. Sie weiß nicht mehr, was heute, gestern oder vorgestern war. So kann sie sich zum Beispiel kurz nach dem Zähneputzen oder Duschen nicht mehr daran erinnern. Als Erinnerungsstütze hat sie sich eine Checkliste an den Badezimmerschrank gehängt, auf der sie die einzelnen Tätigkeiten abhaken kann.

Der Alltag von Barbara Wiedmann hat sich grundlegend geändert. Früher war sie als gelernte Bürokauffrau in einem mittelständischen Unternehmen für die Buchhaltung zuständig. Jetzt ist sie in einer Einrichtung für schwerstbehinderte Menschen (Tourette-#Syndrom#) tätig. Die symptomatischen Beschimpfungen durch die behinderten Menschen belasten sie, »obwohl ich weiß, dass sie es nicht böse meinen«, so Barbara Wiedmann.

Auf die Frage des Moderators, ob sich ihre Einstellung zu behinderten Menschen durch ihre eigene Behinderung verändert hat, antwortet sie: »Ich bin sehr viel geduldiger geworden. Ich freue mich auf die kleinen Dinge, was ich früher nicht gemacht habe. Mein Freundeskreis ist sehr geschrumpft. Ich habe heute nur noch mit drei Freunden von früher Kontakt. Die übrigen haben entweder über mich gelacht oder sich zurückgezogen. Heute ist es so, dass ich zwar Menschen kennenlerne, aber am nächsten Tag nichts mehr davon weiß. Das ist ein Riesenproblem. Auch passiert es mir, dass ich mich nach einem Konzertbesuch auf dem Heimweg nicht mehr genau erinnern kann, welche Art Konzert ich gerade besucht habe.«

Eines ihrer Hobbys ist das Fotografieren, zum einen als Gedächtnisstütze für Menschen und Orte, zum anderen »für mich, da komm ich runter«.

Stolz ist sie auf ihre erste Fotoausstellung. Gerne hätte der Nachsorgekongress ein paar ihrer Fotos gesehen. Barbara Wiedmann: »Ich habe keine Fotos dabei. Ich hab’s vergessen. So schaut’s aus.«

Auch Carina Deffner fotografiert gerne: Urlaubsfotos und Fotos von Landschaften, wie zum Beispiel aus ihrem Urlaub 2016 auf Sardinien. Carina Deffner: »Die Fotos geben mir in schweren Zeiten Kraft.« Wie bei Barbara Wiedmann sind auch bei Carina Deffner die Freunde »weggebrochen«.

»Die Gruppe (Gruppe für junge Menschen mit erworbener Hirnschädigung in der Nachsorge des NeuroRehaTeams) bedeutet mir sehr viel. Ich komme von zu Hause raus«, bekräftigten sowohl Carina Deffner als auch Barbara Wiedmann.

Fabian Schmelzer über die Gruppe: »Ich bin schon länger in der Gruppe. Es ist ein schönes Gefühl, sich mit Leuten zu unterhalten, die ähnliche Schicksale erlitten haben.«

Auf die Frage nach der Zukunftsplanung haben die Interviewten Folgendes geantwortet: Carina Deffner: »Für mich ist es schwierig, Freunde zu finden, da ich mich maximal nur zehn bis 15 Minuten auf ein Gespräch in der Öffentlichkeit konzentrieren kann. Für Außenstehende ist es schwierig zu verstehen, dass ich nach einer kurzen Zeit den Gesprächen nicht mehr folgen kann.«

Fabian Schmelzer: »Auf jeden Fall will ich früher oder später eine feste Freundin haben, evtl. eine Familie gründen.«

Barbara Wiedmann will keine Familie gründen. »Das ist zwar schwierig für meine Mutter, aber es ist nun einmal so.«

Text: Ulrich Jaeger (Ehrenamtlicher Betreuer)

© Tagungsband zum 13. Nachsorgekongress
S. Lemme, H. Lüngen, J. Pichler (Hrsg.)
Reihe Zentrales Nervensystem, Bd. 13
Hippocampus Verlag, Bad Honnef 2019
136 Seiten, zahlreiche Abbildungen, br.,
€ 19,80, ISBN 978-3-944551-37-1