Schädelhirnverletzungen und selbstbestimmte Lebensführung
Das Augenmerk auf die aktuelle Situation und die akuten Probleme sowie deren Bewältigung legend, berichteten Menschen im zweiten Leben nach einer #Schädelhirnverletzung# über ihre individuellen Wege zu einer selbstbestimmten Lebensführung.
Auf die besondere Lebenssituation seiner Interviewpartner empathisch eingehend, führte Marcel Bergmann (Autor und Sportredakteur beim ZDF, Botschafter der ZNS - Hannelore Kohl Stiftung für Unfallopfer mit Beeinträchtigungen) einfühlsam durch das Gespräch mit Brigitte und Rolf Oxenknecht, Eik Schweda, Felix Wolf und Christine Höpfl.
Stellvertretend für alle anwesenden Betroffenen gewährten sie einerseits Mut machend, andererseits Stolpersteine und damit verbundene Herausforderungen nicht ausklammernd, offen Einblick in ihr Leben mit einer erworbenen Hirnverletzung. Durch ihre sehr persönlichen Schilderungen ließen sie die TeilnehmerInnen des 8. Nachsorgekongresses an gemachten Erfahrungen teilhaben und zeigten alternative Perspektiven im Umgang mit den erworbenen Handicaps auf.
Marcel Bergmann
Nach seinem Abitur und dem Grundwehrdienst studierte Marcel Bergmann Englisch und Französisch. Nach einem Jahr als Übersetzer begann er 1991 als freier Mitarbeiter beim ZDF, seit 1992 in der Sportredaktion. Während einer Reise durch Kenia verunglückte Marcel Bergmann. Nach zwei Monaten erwachte er aus dem Koma. Sein Rückenmark war durchtrennt, er ist querschnittsgelähmt. Der damals 30-Jährige musste zahlreiche schwere Operationen über sich ergehen lassen, außerdem hatte er nach dem Koma Schwierigkeiten, zu sprechen, die richtigen Wörter zu finden. Nach langer Zeit der Depressionen nimmt Marcel Bergmann sein Leben im Rollstuhl in Angriff. Heute ist er Sportredakteur in Festanstellung beim ZDF. Einen großen Traum erfüllte er sich 2007 mit einer Reise nach China. „Trotzdem China“ erzählt, wie aus einer als Rettungsanker dienenden Idee ein einzigartiges Abenteuer im Reich der Mitte wurde.
Felix Wolf
Thema 01: Felix vor dem Unfall
Mein Name ist Felix Wolf und ich war wie jeder andere ein ganz normaler Mensch. Ich war 18 Jahre und ging noch zur Schule. Zugegeben, das Gymnasium war für mich nie besonders schwer. Es war klar, dass ich nach der Prüfung Physik studieren wollte. Auch Hobbys gab es einige, von Mathe-AG und PC spielen über das geliebte Skateboard bis hin zur Gitarre und Parkour. Die Krönung war natürlich die Musik, und mit dem besten Freund radelten wir oft zu Kneipenkonzerten und kamen erst spätnachts zurück. Als mein Vater sich ein Motorrad gegönnt hatte, war ich gefesselt von dieser unglaublichen Freiheit und kaufte vom Ersparten selbst ein preiswertes Zweirad. Alles lief wie am Schnürchen und meine schriftlichen Prüfungen standen kurz bevor. Bald geht's los in die weite Welt, so dachte ich mir... Wow, die Zukunft wird großartig!
Thema 02: Unfall - Klinik - Erfolge und Niederlagen
Doch das Leben lief anders als geplant. Ein sehr schwerer Unfall hat alles komplett auf dem Kopf gestellt. Eine Motorradtour am Sonntag, zu Zweit mit meinem Vater. Wegen einer Baustelle fuhr ich voraus, da ich einen Schleichweg wusste. An einer Kreuzung (30er-Zone) passierte das Unglück: Ein Auto übersah das Stoppschild und ich konnte nicht rechtzeitig ausweichen. Bei der Kollision stürzte ich auf den Boden und war sofort bewusstlos.
Es war die düsterste Zeit als ich im Koma lag. Ich hatte ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Meine Überlebenschancen hingen am seidenen Faden. Die Ärzte mussten eine so genannte Entdeckelung der linken Schädeldecke vornehmen, wo auch das Sprachzentrum liegt. Nach drei Tagen wurde mein Zustand stabiler, und drei Wochen später ließ man mich aus dem künstlichen Koma erwachen. Die Prognose: Querschnittsgelähmt, schlechte Chancen das Bewusstsein wieder zu erlangen.
Doch dann kam das Wunder: Denn schließlich hatte ich überlebt! Der Anfang war klitzeklein, und dennoch gab es Erfolge. Erst das Aufstehen mit der Ergo; das Spazierengehen im Rollstuhl; die Freunde, bei denen ich die Namen vergessen hatte, kamen zu meiner Klinik; die Logopädie und mein eiserner Wille: Felix, du schaffst das! Glaub an dich! In einem Monat kann ich wieder sprechen, werde laufen können, gehe zurück zur Schule und mache die Prüfung - und danach geht's ab zum Physik studieren! Das Ausmaß an bleibenden Schäden war mir damals nicht bewusst. Aus einem Monat Klinik wurden acht. Die täglichen Übungen waren schmerzhaft und anstrengend.
Allein das Wiedererlernen des Aufstehens war eine Qual, da ich wegen der Knieverkürzung nachts eine Bandage umbinden musste und somit schlecht schlief. Zu schwimmen hatte ich verlernt. Mein linkes Auge war eingeklemmt und die Sehkraft schwächelte. Nur mit einer OP konnte das zum größten Teil wieder hergestellt werden. Das wird auch der Auslöser sein, warum ich einige Monate fast nichts gegessen hatte: Mein Geruchssinn verweigerte jeglicher Art das Essen und Trinken, ich hatte viel zu wenig Gewicht. Dazu war ich fast ein Jahr im Rollstuhl gefesselt, denn das Laufen musste Schritt für Schritt neu erlernt werden.
Das allerwichtigste war jedoch die Logopädie, also die Sprache neu zu erlernen. Das war für mich das schlimmste, was mir jemals wiederfahren war. Natürlich hörte ich alles, und meine Gedanken wollte ich loswerden... doch es kam nichts raus. Sobald ich reden wollte, stockte ich oder verwechselte die Wörter. So war ich buchstäblich eingesperrt und konnte keinen Satz vernünftig beenden, fast wie eine andere Sprache mit viel grammatischen Fehlern. Das war ein Faustschlag ins Gesicht! Vor dem Unfall war die Kunst des Sprechens ein Klacks gewesen und ich fand sogar Englisch recht einfach, korrigierte spaßeshalber immer die Lehrerin. Dementsprechend sprach ich auch sehr ausführlich und verwendete alle sprachlichen Facetten. Plötzlich konnte ich meiner Familie keine ebenwürdige Antwort mehr geben, und selbst wenn der Satz mal richtig geschrieben war ärgerte ich mich darüber, weil es zu schlicht und so monoton war; immer dasselbe.
Ich bezeichnete das als riesengroße Baustelle. Meine Buchstaben waren verschüttet. Die Logopädin übte mit mir die verlorenen Begriffe, z.B. kleine Bilder die ich sagen und manchmal sogar aufzuschreiben sollte. Es gab so viele ähnliche Wörter, sodass die Verwechselungsgefahr groß war. Natürlich wird das allmählich leichter. Aus anfangs höchstens zwanzig wurden erst hundert, dann womöglich tausend und so weiter. Auf der anderen Seite war ich auch beeindruckt und fasziniert darüber, wie das Geflecht sich wieder spannte. Bsp. Kiwi: Zwar konnte ich das Wort nicht sagen, wusste aber, dass es mit einem K beginnt, vier Buchstaben besitzt, irgendwas mit i zu tun hat und lecker schmeckt. Hatte dann Kiri gesagt.
Thema 03: Reha & Zurück in die Heimat
Als ich aus der Klinik entlassen wurde konnte ich kurz durchatmen ... nächste Station: Lindlar in der Nähe von Köln. Eine Spezialeinrichtung. Der größte Schwerpunkt: Intensives Logopädietraining, teilweise bis zu 5x am Tag. Pausen gab's selten, und das war beabsichtigt. Die Phasen sind dafür ausgelegt, die Belastung zu überstrapazieren und zu Hause das gelernte in die Tat umzusetzen. Ich war mehrmals dort, aber es war schon hart an der Grenze - oft spürte ich keine großen Erfolge mehr.
Warum? Meine Zeit lief davon! Jeder Chefarzt sagt immer, dass besonders die ersten 1-2 Jahre entscheidend wären. Das erste Jahr war vergangen und ganz einfache Sätze konnte ich Freunden im Internet schreiben. Viel schwieriger blieben Schachtelsätze und Vergangenheitsformeln. Den Satz umzustrukturieren, die fehlenden Endungen zu ergänzen und dann einen neue Satz zu bilden war eine Meisterleistung und mir meistens nicht vergönnt.
Langsam bemerkte ich, wie frustrierend die Lage war. Mein Ziel hatte sich überhaupt nicht verändert: Ich wollte das Gymnasium schaffen und studieren! Doch viele Faktoren mischten sich zusammen. Bei der Logopädie wurde manchmal aufgezeichnet. Da sah man mit dem vielen Stocken das Ausmaß der Tragödie. Dazu immer HA. Meine Eltern waren dafür nicht geschult. Ich flüchtete als Ablenkung zum Laptop, aber letztendlich war das eine Ausrede und wurde bald eher ein Fluch als eine Flucht. Ich machte mir Vorwürfe wegen meinen Narben. Die Entfernung von zu Hause machte mir zu schaffen.
Zurück in Chemnitz Mitte 2009 ging das Projekt Schule dann los. Der Direktor erlaubte mir, ein gesamtes Jahr als Gastschüler zu wiederholen. In den Fächern hatte ich sogar fast die gleichen Lehrer; ein Vorteil für den leichteren Einstieg. Meine Rehaberaterin von InReha schickte mir extra einen Assistenten, der mir zur Seite gestellt wurde. Er brachte mich zur Schule, war mit im Unterricht und wenn ich zu müde war fuhr er mich nach Hause; machte Mittagessen und trainierte nach der Mittagspause die Hausaufgaben und Entspannung.
Meine Motivation wurde besser. Inzwischen konnte ich schon wieder gut laufen und Fahrrad fahren. Das Autofahren funktionierte nach einiger Übung und einer Fahrprobe wieder prima. Ich spielte öfters wieder Gitarre, lernte das Jonglieren und kam zum Billardverein. Die Zeit verstrich und wieder kamen Zweifel hoch. Bei der Kurve vom täglichen Lernziel hatte sich gezeigt, dass doch nicht alles so rund lief wie geplant. Jetzt war es schon Anfang 2010 und ich wusste genau, dass ich für eine Prüfung noch nicht bereit war. Außerdem versuchte ich auch, eine gute Verbindung mit den Schülern aufzubauen; was sich als schwierig gestaltete. Auch in unserer damaligen Clique wurde es still, denn die meisten waren weggezogen in eine andere TU Stadt. Während ich also Abwechslung nach der Schule wollte musste jeder normale Kamerad fleißig lernen und gute Noten im Gymnasium ablegen. Überhaupt war das Lernen anstrengend und bei vielen Stellen überforderte ich mich. Mein verändertes Leistungsvermögen und die Konzentrations-Schwierigkeiten wurden deutlich. Alternativen hatte ich bislang nicht geplant...
Was passiert, wenn ich das geliebte Gymnasium abbrechen muss? Wäre ich ein Feigling, ein gesamtes Jahr komplett verschwendet zu haben? Und darf ich nie in den Genuss kommen, 'n tolles Studium zu haben und zu meistern? Die Antwort: Ja, Felix, du musst aufhören. Deine Maßstäbe waren von Anfang an zu hoch angesetzt. Autsch! Es war schmerzhaft das Ergebnis einzugestehen. Aber ich hatte eine neue Idee für eine Arbeit: Die TU - Erprobung im Praktikum.
Und siehe da, der Plan ging auf. Ich kam zuerst zum Print- und Medienbereich. Das lief für einen Monat gut. Allerdings spürte ich bald zu viel Druck und Hektik und auch die Kollegen zeigten mir nichts zum einarbeiten. Unfreundlichkeit und Stress? Nee, lass' ma! Als nächstes probierte ich meinen Traumbereich aus: Physiklabor hautnah! Das sah schon besser aus.. Okay, die meisten kamen aus dem Ausland und sprachen nur Englisch, was ich nicht verstand. Aber Physik versteh ich ja, oder? Falsch gedacht. Die kleinen mikroskopischen Proben auf unbekannte Materialen zu überprüfen sah für einen Laien zwar sehr professionell aus, doch lernen konnte ich dort nichts. Das Physiklabor entpuppte sich als trostlos, lieber wollte ich weiterziehen zu neuen Ufern. Als nächste kam ein Praktikum im Logistikbereich der Deutschen Bahn.
Mein Bauchgefühl war bei allem eh nur mittelmäßig. Ich hatte verstärkt Probleme sowohl extern als auch intern. Ich vermisste meine alten Freunde und fand auch keinen richtigen Anschluss beim Billard. Die Gitarre in meinem Zimmer verstaubte langsam. Der Wunsch, endlich von dem ganzen Trubel Abstand zu bekommen und zu verreisen war groß, am besten weit weg - aber ohne Englisch kam man ja nicht weit. In meinem Kopf entstand ein zweites Ich: Felix alt und Felix neu. Der alte Felix war ja echt ein cooler Typ, hatte alles voll im Griff. Felix neu mochte ich aber ganz und gar nicht, und wir kamen uns öfters ins Gehege...
An dieser Stelle war es höchste Eisenbahn, eine neue Schiene zu errichten: Das Stichwort war "Reha". Erholung war mir recht. Selbst wenn die Einrichtung im tiefsten Niederbayern lag und weit und breit keiner den Dialekt vernünftig sprach. Nein, diese Klinik, die ich meinte, hatte einen besonderen Bonus. Denn dort gab es zwölf Menschen, die damals ebenfalls einen schweren SHT-Unfall hatten. Dazu gab es extra ein kleines Team, das uns über 3 Monate täglich begleitete. Was war das Ziel der Kur?
Man solle neue Wege einschlagen und den Horizont erweitern. Viele Sachen probierte ich anfangs nicht aus, da ich oft zu dickköpfig war. Aber was sprach dagegen, es nicht einmal zu testen? Die Lage war abgeschieden auf einem Berg, rundherum im Wald errichtet. Die Ruhe und die frische Luft befreiten mich. Plötzlich war ich wieder in meinem Element - machte ganz freiwillig Hausaufgaben, sprach wesentlich besser, schrieb E-Mails und rief alte Freunde an. Meine Projekte hatten sich neu sortiert; ich sprudelte förmlich vor Ideen! Ich entschied mich für ein Praktikum im sozialen Bereich: "Betreutes Wohnen für Senioren" in Chemnitz.
Thema 04: Neue Wege einschlagen - BeWo für Sen.
Angedacht war zunächst ein Praktikum für 2 Wochen, doch es wurde ein halbes Jahr daraus.
Das kleine Team war spitze und speziell die Chefin unterstütze mich sehr. Am schwierigsten war die Überwindung, mit den Senioren den ersten Kontakt aufzunehmen. Wie würden sie reagieren, wenn ich plötzlich ins Stocken gerate oder gar einfache Fragen vielleicht nicht richtig verstehe? Zu meiner Überraschung bemerkte ich schnell, dass viele ganz normale "ältere Herrschaften" waren. Es dauerte eine Weile, bis ich nach mehreren Wochen einen Tagesablauf finden konnte. Ich half beim Mittagessen, ging mit einigen Bewohnern spazieren, holte unterwegs Rezepte ab und übernahm Reinigungsarbeiten. Das Selbstbewusstsein bei den Anforderungen wuchs und immer mehr konnte ich allein Aufgaben erledigen.
Das Klima im BeWo war für mich ideal. Die Senioren hatten mich aufgenommen und es wurde ein lockeres Verhältnis. Das tägliche Sprechen war optimal, die Arbeitszeiten waren gut und jeden Tag lernte ich neue Aufgaben. Vielleicht schlummert in mir sogar noch mehr? Ich entschied mich, einen weiteren Test zu machen: Das Heidelberger Aphasiezentrum.
Diese Überprüfung war enorm wichtig für mich. Ein Zwischenbericht von meiner bisherigen Leistung; mit Stärken sowie Schwächen. Nach dem Unfall hatte nie eine Messlatte gehabt, und ich hatte Angst vor einem möglicherweise schlechten Ergebnis. Die Auswertung war auf jeden Fall eines: Ehrlich. Im Test wurde festgestellt, dass ich bei fast allen Aufgaben mehr Zeit benötige. Speziell im Elektro- sowie Excelbereichen hatte ich die Aufgabenstellung öfters falsch beantwortet. Ich konnte leider keine wirklichen Erfolge erzielen, und erwartungsvolle Prognosen würde es nicht mehr geben. So war die logische Schussfolgerung, weiter im Betreuten Wohnen zu arbeiten.
Inzwischen habe ich einen Arbeitsvertrag bei der Caritas im Betreuten Wohnen und es blieb so: Das Betreute Wohnen für Senioren ist mir ans Herz gewachsen :-)
Ja, und so habe ich den neuen Lebensabschnitt gefunden. Das Team ist echt toll, meine Aufgaben sind immer abwechslungsreich und jeder Tag sieht anders aus. Die Bewohner kennen und schätzen mich. Jeder weiß, dass ich mich bemühe gut und gründlich zu arbeiten. Mit diesem Feedback macht es einfach nur Spaß. Dabei lerne ich neue Themen und erweitere meinen Horizont. Und auch nach dem Dienst fand ich schöne Hobbys. Meine früheren Ziele werde ich in guter Erinnerung behalten - es sollte einfach nicht so sein. Felix alt und Felix neu haben sich wieder zusammengefunden.