"Ich würde gerne besser rechnen können"

Die Tradition der letzten Jahre wurde fortgesetzt: Die Interviews mit Betroffenen auf dem Nachsorgekongress. Eine Gesprächsrunde mit Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen. 

Diesmal waren als betroffene Menschen Susan Lang und Patrick Griepentrog anwesend.

Souverän moderiert wurde die Gesprächsrunde, wie auch schon in den Vorjahren, von dem Wissenschaftsjournalisten Martin Winkelheide.

Der 14. Nachsorgekongress im Jahr 2022 stand unter dem Motto "Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Unsichtbare Beeinträchtigungen erkennen".

Fazit: Obwohl nicht alle Beeinträchtigungen auf den ersten Blick erkennbar sind, sind es oft sehr schwere Beeinträchtigungen. Bei Patrick Griepentrog sind zum Beispiel weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick Beeinträchtigungen erkennbar, aber trotzdem hat er ein schweres Schicksal. Susan Lang und Patrick Griepentrog haben sich nach einer schweren Hirnschädigung erfolgreich wieder ins Leben zurückgekämpft. Sie sind Bewohner einer therapeutischen Wohngruppe, die vom Psychsosozialen Betreuungszentrum für Menschen mit erworbener Hirnschädigung in Dresden betrieben wird.

 

Susan Lang, eine jüngere Frau, berichtet unsicher und stockend, dass sie als Kind einen schweren folgenreichen Unfall hatte. Erst vor vier Jahren ist sie von Chemnitz nach Dresden in die Wohngemeinschaft umgezogen: "Das ist ein Haus, ein normales Einfamilienhaus, das viele Räume hat. Jeder Bewohner hat ein eigenes Zimmer und dann gibt es noch Gemeinschaftsräume." "Also erstmals war es schwer, alleine zurechtzukommen, aber mit der Hilfe von den Betreuern ist es Stück für Stück gelungen."

Auf die Frage, wie denn der Tagesablauf aussehe, antwortet sie: "Also um 5 Uhr aufstehen, frühstücken, dann zur Arbeit gehen. Die Fahrzeit beträgt eine Stunde und um acht Uhr ist dann Arbeitsbeginn. Ich arbeite bis 14 Uhr. Dann wieder eine Stunde Rückfahrt. Nachmittags habe ich dann Arzt- und Therapie-Termine oder Freizeit und abends Speisen zu sich nehmen, also essen. Jeder Bewohner kauft selbständig ein, denn nicht jeder Bewohner will das gleiche essen, was der andere will. Ich arbeite im "Gut leben."

"Gut leben" ist eine Einrichtung ähnlich einer Behindertenwerkstatt. Die Bewohner werden in verschiedenen Arbeitsbereichen, ganz individuell, eingesetzt. Denn viele Bewohner können nur drei bis vier Stunden arbeiten.

Ganz stolz ergänzt Susan Lang: "Ja, ich arbeite im Büro und in der Kreativ-Werkstatt. Neu dazugekommen ist, dass ich nun auch verkaufen darf. In der Kreativ-Werkstatt mache ich zum Beispiel Holz-Engelsfiguren, die ich rund schleife. Andere Mitarbeiter schleifen die Flächen dann glatt. Ja, und dann male ich noch. Steine müssen bemalt werden. Andere, die eine gute Handschrift haben, schreiben dann was auf die Steine. Dann klebe ich noch Etiketten auf Marmeladengläser, die Patrick Griepentrog kocht. Ich versuche, mir Mühe zu geben. Die Etiketten dürfen nicht geknickt sein. Auf alles muss man aufpassen!"

Susan Lang erzählt weiter: "Andere Personen können mehr. Im Kopf sind die weiter. Die können beispielsweise Schach spielen. Aber für mich hat das zu viel mit Mathe zu tun. Das ist mein großes Manko. Mein Vaterkann gut Schach spielen – auch meine Neffen. Ich habe ein Fahrrad bekommen. Das Fahrrad ist ein gutes Fortbewegungsmittel. Ich darf kein Auto fahren, aber ich bin nicht traurig darüber."

Auf ihre Träume angesprochen, sagt sie. "Also ich würde gerne besser mit dem Internet umgehen können und ich würde gerne besser rechnen können, zum Beispiel beim Geld rausgeben, wie halt ein normaler Verkäufer auch"

 

Patrick Griepentrog, dem man seine Behinderung nicht ansieht, wohnt auch in der Gruppe. Die Gruppe bestehe derzeit aus neun Personen, erzählt er. "Es war zuerst ein langer Weg und ein großer Schritt zurück in die Selbstständigkeit. Aber wir unterstützen uns sehr viel gegenseitig."

Patrick Griepentrog war ausgebildeter zweiter Küchenchef als er in Kanada einen schweren Skiunfall hatte. "Ich musste alles wieder lernen, also zu sprechen, zu laufen usw. Ich musste mich Stück für Stück zurück ins Leben kämpfen. Es war ein schwieriger und langer Weg. Wichtig war, sich nicht zu viel Druck für mich selbst aufzubauen – immer nur ein kleines Stück weiter auf der Leiter".

Patrick Griepentrog merkt man an, dass er sich im Wohnheim wohl fühlt. Er sagt "Da wird einem geholfen." Er betont, dass es sehr wichtig sei, sich in der Wohngemeinschaft untereinander zu helfen. Dass er dies nicht nur so sagt, sondern auch wirklich umsetzt, konnten alle sehen. Patrick unterstützt auf dem Weg zum Podium mit ein paar Stufen Susan Lang dabei auf das Podium zu kommen. Er stützt sie mit beiden Händen und zeigte ihr den Weg.

Auf die Frage, wann und wie das Ereignis passiert sei, antwortet Patrick Griepentrog: "Das ist jetzt elf Jahre her, es ist an meinem Geburtstag passiert. Es folgten lange Reha-Aufenthalte, und ich hatte schlimme Epilepsie-Anfälle. Inzwischen bin ich medikamentös gut eingestellt. Ich bin sehr froh, dass ich inzwischen lange anfallsfrei bin."

Patrick Griepentrog macht ein Praktikum in der Küche. "Gestern hatte ich meinen letzten Tag im Praktikum in einem Cafe, in dem ausschließlich behinderte Menschen arbeiten. Ich habe Dienstpläne geschrieben, gekocht, gebacken. Wir waren ein Dream-Team. Es war ein schönes Arbeiten."

Auf die Bemerkung von Martin Winkelheide: "Herr Griepentrog, Sie wirken mega zufrieden" antwortete Patrick Griepentrog "Ja, ich möchte gerne zurück in die Küche." Winkelheide: "Aber die Küche ist nicht wirklich ein ruhiger Arbeitsplatz?" Patrick Griepentrog: "Ja, ich brauche zwischendurch mal fünf bis zehn Minuten Auszeit und die habe ich im Praktikumsbetrieb auch gekriegt". Des Weiteren gehe er gerne klettern berichtet Patrick Griepentrog: "Das ist anstrengend. Aber ich schaffe das!"

Auf die Frage an die Betroffenen, welche Rückmeldungen es aus der Familie gibt, haben die Interviewten geantwortet:

Patrick Griepentrog: "Meine Familie und Freunde sehen die Entwicklung von mir. Natürlich hat man auch einmal eine schlechte Zeit. Aber es wird einem in der Wohngruppe geholfen und man wird wieder aufgebaut. Man hat dann wieder das Gefühl, man hat es geschafft."

Susan Lang: "Jetzt können sich meine Eltern wieder einen Urlaub gönnen. Ich darf leider nicht weiter weg. Ich würde gerne zu den Nordlichtern, also Grönland und so fahren, aber ich darf nicht überall hin. Mein Neurologe hat was dagegen, denn es könnte vom Kopf her Schwierigkeiten geben, also medikamentös."Sie verabscheidetete sich mit den Schlussworten: "Ich habe für mich entschlossen, mich bei Frau Seiler, Herrn Griepentrog und Frau Bartels zu bedanken, dass sie für uns da sind, neue Wege zeigen und uns ermöglichen, Wünsche usw. zu äußern"

 

Interdisziplanären Austausch zum Thema "unsichtbare Beeinträchtigungen" 

Neben den Betroffenen haben auch Frau Sylvia Bartels und Frau Dr. Sigrid Seiler an der Gesprächsrunde teilgenommen.

Sylvia Bartels vom Psychosozialem Betreuungszentrum für Menschen mit erworbener Hirnschädigung, Rechenberg-Bienenmühle: "Die erste Wohngruppe wurde 2011 gegründet. Inzwischen haben wir vier Wohngruppen. Wir setzen da an, was die Bewohner brauchen. Alle einschließlich Ärzte und Therapeuten sind sehr gut eingespielt. Das ganze Prinzip funktioniert nur auf Gegenseitigkeit und wenn man wahnsinnig Respekt vor den Bewohnern hat. Es ist für die Wohnheimbewohner zuerst eine große Herausforderung. Neun Menschen müssen sich täglich miteinander auseinandersetzen. Wesentlich ist, eine Grundstruktur zu schaffen und das Leben so gut wie möglich zu gestalten. Alle unsere Bewohner haben die Möglichkeit, bei uns zu bleiben. Wir haben auch Bewohner, die schon sechzig sind. Es muss halt passen. Das muss natürlich gegenüber den Kostenträger begründet werden. Wir müssen jährliche Entwicklungsberichte verfassen. Es ist wichtig, respektvoll miteinander umzugehen, nicht von oben herab" ist das Fazit von Sylvia Bartels.

Dr. Sigrid Seiler vom NeuroReha Team Pasing, Tagesklinik für neurologische Komplexbehandlung und Nachsorge aus München, ist von den Erzählungen der beiden Betroffenen beeindruckt. "Ich habe den Eindruck, es wird jedem geholfen, der Hilfestellung braucht. Ich hätte total Lust in so einer Wohngruppe zu arbeiten, denn die Entwicklungen sind nie abgeschlossen. Die Gefühle haben schon relativ viel Platz. Das Engagement ist hervorragend."

 

Text: Ulrich Jaeger